Wollen Sie in diesen Tagen etwas über Fußball lesen?

Barsinghausen. Nie zuvor stand ein Besuch der Deutschen Fußball-Nationalmannschaft in Barsinghausen unter solch traumatischen Bedingungen. Nie zuvor rückte der Sport bei einem Länderspiel in Hannover, das dann auch noch abgesagt wurde, derart in den Hintergrund. Zweifellos schließen die schockierenden Ereignisse von Paris am Freitagabend, den 13. November, und deren Folgen jeden Vergleich aus.

Von Erk Bratke

Wollen Sie in diesen Tagen etwas über Fußball lesen? Insbesondere über den, der mit der deutschen Nationalelf zu tun hat? Wenn nicht, dann steigen Sie hier einfach aus. Wäre nur allzu verständlich. Falls aber doch, dann verfolgen sie den Besuch des DFB-Teams in Barsinghausen und Hannover – das DEISTER JOURNAL war an drei Orten dabei, unter anderem auch mit etlichen Barsinghäusern in Hannover.

Sicherheitszone Sporthotel

Rückblick: Kommen sie nun nach Barsinghausen oder nicht? Findet das Länderspiel gegen Holland nun statt oder nicht? Nur zwei Fragen, die nach den Terroranschlägen in der französischen Hauptstadt erst zwei Tage danach vom Deutschen Fußball Bund (DFB) beantwortet werden. Bei der Pressekonferenz am Montagmittag auf dem Rittergut in Eckerde sprechen Chefcoach Joachim Löw und Teammanager Oliver Bierhoff unisono von einem „schweren Entschluss“ – verständlicherweise.

Sicherheitszone: Das Sporthotel ist weiträumig abgesperrt.
Sicherheitszone: Das Sporthotel ist weiträumig abgesperrt.

Im Laufe des Montags trudeln Spieler und DFB-Tross im Barsinghäuser Sporthotel ein. Der Parkplatz am Fuchsbachtal ist weiträumig abgesperrt. Die Durchfahrt wird nur nach vorheriger Anmeldung und Kontrolle genehmigt – freilich nicht für alle, aber das ist nichts Neues. Entsprechendes Polizeiaufgebot, auch mit Bombenspürhunden, verstärkte Security-Kräfte – die sonst so volksnahe Herberge am Deisterrand mutiert zur Hochsicherheitszone. Das an diesem Tag die Worte „Gewährleistung besonderer Sicherheit“ wohl zu den meist genannten gehören – auch verständlich.

Ein Film von der Ankunft wird gedreht. Folgt man den Videoausschnitten auf der Homepage des DFB, so kann beobachtet werden, dass die Wiedersehensfreude der Nationalspieler nicht besonders groß ist. Angespannte Gesichtszüge, nur hier und da ein kurzes Lächeln – ebenso verständlich.

Die Pressekonferenz

Pressekonferenz im Rittergut: Teammanager Oliver Bierhoff, Bundestrainer Jogi Löw und Pressesprecher Jens Grittner (von links).
Pressekonferenz im Rittergut: Teammanager Oliver Bierhoff, Bundestrainer Jogi Löw und Pressesprecher Jens Grittner (von links).

Szenenwechsel: Kolonnenfahrt – von zwei Polizei-Bullis in die Zange genommen, fahren Jogi Löw und Oliver Bierhoff auf dem Rittergut in Eckerde vor, um wenig später gemeinsam mit Pressesprecher Jens Grittner vor mehr als 100 Journalisten Rede und Antwort zu stehen. Schon die ersten Worte von Jogi Löw sind beeindruckend: Die Austragung des Länderspiels in Hannover sei eine klare Botschaft für die Freiheit und die Demokratie. Gleichwohl werde die Partie von Trauer überschattet sein. In jeder Phase des Spiels werde auch das Mitgefühl für die Angehörigen der Opfer mitspielen, sagt Löw sichtlich ergriffen. Er resümiert seine Gedanken nach der Nacht in Paris und bei der samstäglichen Landung in Frankfurt. Mit Blick voraus finden auch auch Gedankenzüge statt wie „Gibt es in dieser Phase nichts Wichtigeres als Fußball?“ Gemeinsam habe man beschlossen, eine weitere Nacht darüber zu schlafen und erst dann zu beraten, welche Entscheidung getroffen werden soll. Zum Abschluss seines ersten Statements äußert der Bundestrainer einen Wunsch: „Die vielzitierte sportliche Rivalität soll in den Hintergrund treten.“ Das Holland-Spiel habe Symbol-Charakter. Die klare Botschaft lautet: Eintreten für unsere Werte. Löw: „Wenn wir das Stattfinden dieses Spiels so sehen, haben wir unabhängig vom Ergebnis gewonnen.“

Teammanager Bierhoff: „Niemand hatte Gedanken an Fußball.“
Teammanager Bierhoff: „Niemand hatte Gedanken an Fußball.“

Auch Bierhoff wird nach seinem Befinden und seinen Gefühlen befragt. Er erzählt von der Nacht in den Katakomben des „Stade de France“. Geschockt mit großer Angst und Sorge. Ja, die Spieler seien arg betroffen gewesen. „Niemand hatte Gedanken an den Fußball“, so Bierhoff. Schon in der Nacht habe die Diskussion um die Austragung des Holland-Spiels begonnen. Als Verantwortlicher funktioniere man zunächst, die Ratio setze sich durch, ehe die Gedanken am Tag danach viel schlimmer sind. „Dann realisiert man erst alles. Die Pause der Überlegung war aber gut und hilfreich“, sagt der Teammanager.

„Es ist ein schwieriger Spagat für uns“, sagt der Bundestrainer. Nein, er werde das Frankreich-Spiel nicht noch einmal zur Analyse anschauen. „Wir können nach den Geschehnissen in Paris nicht einfach zur Tagesordnung übergehen. Trotzdem wollen wir auf dem Feld gute sportliche Leistungen zeigen.“ Löw geht davon aus, dass die Stimmung im Stadion eher gedrückt sein wird. „La Ola-Wellen wird es es sicher nicht geben“, betont Löw. Ob es eine demonstrative Gemeinschaftsaktion geben wird – fraglich.

Bierhoff erklärt dazu, dass sich auch die Fans der Nationalelf dazu Gedanken gemacht haben. In französischen Trikots auflaufen oder die französische Hymne spielen – es habe etliche Vorschläge als Symbolik gegeben. Allein schon mit der Austragung des Holland-Spiels wolle man ein Zeichen setzen.

Bundestrainer Löw: „Das Holland-Spiel ist für mich kein Maßstab als Test für die EM.“
Bundestrainer Löw: „Das Holland-Spiel ist für mich kein Maßstab als Test für die EM.“

Der sportliche Wert des Länderspiels – geschenkt. Löw: „Das Holland-Spiel ist für mich kein Maßstab als Test für die EM.“ Dass etliche Leistungsträger in Hannover nicht dabei seien, habe nichts mit den Ereignissen in Frankreich zu tun. Das sei vorher schon vereinbart gewesen, um die Kräfte der Spieler zu schonen, die beispielsweise in England oder Spanien ohne Winterpause auskommen müssen. Es wird auch gefragt, ob die Terroranschläge mögliche Auswirkungen für die EM 2016 in Frankreich haben. Eine Antwort fällt schwer. „Jede Großveranstaltung steht unter besonderer Beobachtung“, sagt Bierhoff und erwähnt dabei den 12. Dezember, wenn in Frankreich die Auslosung der EM-Gruppen stattfindet. Für Hannover erwarten Bierhoff und Löw erhöhte und bestmögliche Sicherheit. Der Bundestrainer erwartet keine Party in der HDI-Arena, auch wenn man so weit wie möglich die Nähe zu den Fans suchen wolle. Die Pressekonferenz sowie weitere Berichte aus Barsinghausen sind im Internet auf der DFB-Homepage (Videos) zu finden.

Training im Fuchsbachtal

Erneuter Szenenwechsel: 18 Uhr, Montagabend. Es regnet stark. Der 18er-Kader erscheint pünktlich auf dem Trainingsplatz am Fuchsbachtal und bildet zunächst einen Kreis – eng, ganz dicht beieinander und teilweise Arm in Arm. Worte sind nicht zu hören.

15 Minuten freies Training für Journalisten. Das ist relativ normal. Doch ehe der Weg in den für Reporter abgesperrten Bereich gelingt, sind zwei Sicherheitskontrollen zu überwinden. Immerhin: Man geht freundlich miteinander um. TV-Teams, Hörfunk-Kommentatoren und Zeitungsredakteure dicht nebeneinander. Komisch, das sonst übliche Schieben und Zerren um das „beste Bild“ bleibt aus. Auch unter den Journalisten ist es wesentlich ruhiger als sonst. Sofern gesprochen wird, geschieht es eher leise. Die üblichen Sprüche – Fehlanzeige. Irgendwie eine gespenstige Atmosphäre.

Rundenlaufen im Fuchsbachtal: Die Trainingsgruppe wird von Thomas Müller (links) angeführt.
Rundenlaufen im Fuchsbachtal: Die Trainingsgruppe wird von Thomas Müller (links) angeführt.

Die Trainingsgruppe beginnt mit dem warm up. Lockeres Rundenlaufen zum Aufwärmen, Dehnübungen, ein paar Steigerungsläufe, Kurzpässe, ein bisschen Ballgeschiebe. Noch bevor die angesetzte Viertelstunde vorbei ist, haben etliche Journalisten den Spielfeldrand verlassen. Absolut unüblich. An anderen Tagen müssen die DFB-Sicherheitsleute meist energisch darum bitten, den Platz zu verlassen. Offensichtlich hat am Montagabend niemand so richtig Bock auf Fußball.

Kurze Frage noch an NFV-Mitarbeiter Jan Baßler. Gemeinsam mit Andreas Baranek, Arbeitskollege und Mannschaftskamerad vom 1. FC Germania Egestorf/Langreder, verfolgt er das Training der Nationalelf. Und mit Blick auf das anstehende Länderspiel gegen Holland – ja, es sei schon ein eigenartiges Gefühl. Davon will sich Baßler aber frei machen. Klar, das Spiel hat Symbolcharakter.

Indes begrüßt Karl Rothmund, Präsident des Niedersächsischen Fußball-Verbandes, die Entscheidung der Austragung. „Ich hoffe, dieses Spiel wird eine Demonstration dafür, dass Menschen in Deutschland und in Europa nicht bereit sind, den Terror zu akzeptieren“, sagt er gegenüber dem NDR. Er hoffe zudem, dass deutlich werde, dass dieser Terror nichts mit dem Flüchtlingsthema zu tun hat.

Letztgenanntes haben Bierhoff und Löw thematisiert. Die Flüchtlingsproblematik, Integration, Migration – der DFB habe die gesellschaftlichen Verpflichtungen angenommen und lebe sie auch vor. Löw: „Mesut Özil, Sami Khedira und all die anderen – ich denke, das ist beispielgebend genug.“

In Aktion: Sami Khedira, André Schürrle und Mario Gómez (von rechts) beim Hürdensprung.
In Aktion: Sami Khedira, André Schürrle und Mario Gómez (von rechts) beim Hürdensprung.

Als Fußballfan blickt man in sich hinein. War es nicht so, dass man noch vor wenigen Tagen nur allzu gern die Rollen einmal hätte tauschen wollen? Nationalspieler sein – wie geil ist das denn! Aber jetzt, nach Paris und vor Hannover? Nein, dann lieber bei TuS Kleinkleckersdorf bleiben…

Das abgesagte Länderspiel

Treffpunkt SC Elite: Fußballfreunde aus Barsinghausen schicken uns dieses Handyfoto.
Treffpunkt SC Elite: Fußballfreunde aus Barsinghausen schicken uns dieses Handyfoto.

Der nächste Tag und Ortswechsel: Am Bahnhof Fischerhof steigen zahlreiche Barsinghäuser aus dem Zug. Nahezu jeder Ortsteil ist vertreten. „Hallo, grüß dich!“ Man kennt sich, denn es sind Vertreter oder Aktive der heimischen Fußballclubs. Sie alle haben über die DFB-Aktion für Flüchtlingshelfer Freikarten für das Holland-Spiel erhalten. Auf geht’s! Hin zu der Arena, die in den „guten, alten Fußballzeiten“ mal Niedersachsenstadion hieß. Dem Beobachter fällt auf: Keine Polizei auf dem Bahnsteig. Hm, das ist bei 96-Heimspielen doch ganz anders. Egal.

Mit Holland-Schal: Clementine Seebeck aus Egestorf trägt Oranjefarben.
Mit Holland-Schal: Clementine Seebeck aus Egestorf trägt Oranjefarben.

Erwachsene, Jugendliche und Kinder – gute Bekannte und Freunde treffen sich. Darunter auch zwei Holländer aus Basche. Clementine Seebeck und Josh Teesink haben Trikot beziehungsweise Fanschal in den Oranje-Farben angelegt. Das sonst obligatorische „Ohne Holland fahr’n wir…“ ist nicht zu hören. Kein Bock drauf. Ganz entspannt erreicht die große Gruppe aus Barsinghausen die Stadionbrücke und den üblichen Treffpunkt: SC Elite. Weitere Bekannte aus Wennigsen und Gehrden stoßen hinzu. Bratwurst und Bier werden bestellt. Klar, unablässige Dinge beim Fußballbesuch.

Anders als sonst finden in den Gesprächen angeregte Diskussionen über Jogis Taktik oder Mannschaftsaufstellungen diesmal keinen Platz. Der Terror ist das beherrschende Thema. „Wo warst du, als Paris passierte?“ oder „Ich habe einen Bekannten, der im Stade de France dabei war“ – Erzählungen folgen. Die werden jäh unterbrochen, als Dennis Völkers vom TSV Barsinghausen eine Handynachricht erhält. Sport1 meldet „Das Spiel ist abgesagt!“

„Quatsch“, sagen die meisten Beteiligten noch, um wenig später die Richtigkeit der Meldung im Elite-Clubheim per Fernsehen bestätigt zu bekommen. Na super, so ein Scheiß! Erst ist von einem verdächtigen Koffer in der Robert-Enke-Straße die Rede, dann von verdächtigen Personen, Bombe im Stadion, Sprengstoff in einem Sanitäter-Wagen. Man mag es kaum glauben. Und was soll man glauben?

Schon kommen die ersten Anrufe von zu Hause. In der Folge klingelt das Mobiltelefon pausenlos. Familienangehörige, Journalistenkollegen, Freunde. Auch Frank Rogner, Vorstandsmitglied von Basche United, meldet sich. Er ist mit dem eigenen Auto auf der Anreise zum Stadion, sitzt mit seiner Familie allerdings im Stau fest und will sich die Meldung bestätigen lassen. „Ja, ihr könnt umdrehen.“

Treffpunkt SC Elite: Jens Widdel (TSV Barsinghausen) und Anna-Janina Niebuhr (Regionssportbund Hannover). Fotos: privat/Bratke
Treffpunkt SC Elite: Jens Widdel (TSV Barsinghausen) und Anna-Janina Niebuhr (Regionssportbund Hannover). Fotos: privat/Bratke

Indes ist Anna-Janina Niebuhr beim SC Elite eingetroffen. Die Geschäftsführerin des Regionssportbundes Hannover wohnt in Ricklingen und war mit dem Fahrrad auf dem Weg zum Stadion als die Nachricht der Absage kam. Umgekehrt ist sie nicht. Sie berichtet der Gruppe von Bekannten über ihren heutigen Arbeitsweg, der nach Dienstschluss unmittelbar am Stadion vorbei führt. „Da ging nichts. Ich wurde gezwungen, einen riesigen Umweg zu fahren“, erzählt sie. „Und jetzt das, da wird tatsächlich Verdächtiges gefunden.“

Zwischendurch kommt die Mitteilung, dass die S-Bahn nicht fährt. Ratlose Gesichter und die Frage: „Wie kommen wir denn jetzt nach Hause?“ Einige machen sich dennoch auf den Weg zum Bahnhof. Andere verweilen in der Elite-Gaststätte. „Dann trinken wir halt noch etwas“ – so vergeht die Zeit. Jetzt wäre Halbzeit gewesen…

Irgendwann werden sich die letzten Barsinghäuser einig. Taxis aus Barsinghausen werden geordert. Noch vor Mitternacht ist man wohlbehalten vor der Haustür. Schlafen. Am nächsten Tag Nachrichten hören. Was ist denn nun wirklich passiert?

In Erinnerung ist auch noch ein Gespräch mit Inga O. aus Hildesheim. Die 41-Jährige Polizistin hatte ebenfalls Freikarten aus dem DFB-Pool erhalten. Was hatte sie noch gesagt? „Nein, ich habe kein Bauchgrummeln, wenn ich ins Stadion gehe. Ich denke, das ist heute der sicherste Ort in Deutschland.“ Hm, kann es überhaupt noch sichere Orte geben? Und Fußball? Wer hat denn überhaupt noch Lust dazu?

Kommentieren Sie den Artikel

Bitte geben Sie Ihren Kommentar ein!
Bitte geben Sie hier Ihren Namen ein